DER SÜNDER WIRD HOFIERT
ROLF DIETER BRINKMANN ZUM 80.

Am 16. April wäre er 80 Jahre alt geworden: der in Vechta geborene Dichterrebell und literarische Erneuerer Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975). Bereits in jungen Jahren verließ er seinen Geburtsort, zu dem er ein ambivalentes Verhältnis hatte, zog zunächst nach Essen und dann nach Köln.


Lieber Brinkmann,

gut, dass Du’s nicht erlebst. Unser Atemschutz hat Schnitte. Risikobehaftet warst Du immer schon, jetzt wärest Du Teil jener Gruppe, die sich gesundheitlich schützend verschanzen müsste.      

In schreibender Quarantäne denke ich an Dich, an dem Ort, den Du verließest, ich aber hier verharre, da es mich an die Uni Vechta verschlagen hat. Was habe ich nur getan, um hier schmachten zu müssen: nach Jahren, die ich in Berlin, Wiesbaden und Lissabon verbrachte. Wie recht hast Du mit Deinen Worten über diesen von Kultur befreiten Ort – was Dich einst aus dieser Stadt fliehen ließ.    

Deine Erinnerungen an die Landschaft, Deine Sinneseindrücke in der Natur: Ich sehe sie, kann sie aber nicht fühlen. Die umliegenden Maisfelder, die Deinen Geburtsort umschließen, mit stinkenden Hühner- und Schweineställen und mit dem Wehklagen, das aus verkrusteten Lüftungsschächten dringt – das erweckt nicht nur Abscheu, es nimmt einem die Poesie der Natur. Ausbeutend wird ihr der Charme entzogen wie auch der Stadt in ihrem kleinbürgerlichen Milieu mit versachlichender spröder Sprache. Leute, die „von allem den Preis, nicht aber den Wert kennen“, wie es mal in einem anderen Zusammenhang Oscar Wilde äußerte.      

Dein „runder Geburtstag“ hat außer dem umherschweifenden Virus ein weiteres Fieber entfacht.  Deine im Schlepptau auftauchenden Freunde von einst verscherbeln ihr letztes Hemd. Selbst Dein alter Freund Rygulla wird nochmal aktiv, wie er mir mitteilte. Mit Deinen an ihn gerichteten Briefen will er „Kohle machen“, anstatt sie an verlässlichem Ort in Marbach zu hinterlegen.    

Das, was Dich als Erneuerer der Literatur bedeutsam machte, zählt in Vechta weniger, „Schweinskram“ habest Du geschrieben und Dich „auffällig verhalten“. – Etwas hat sich jedoch gewandelt, was der philatelistischen und leutseligen Tätigkeit der Brinkmann-Arbeitsstelle zu verdanken ist: Erinnerungsstücke avancieren inzwischen zur Kapitalanlage eines Reisebusunternehmers, der vermutlich noch keine einzige Zeile von Dir gelesen hat. Fiebernd durchstöbert Fauser ein aufgefundenes Poesiealbum, jetzt wirst Du zum Heimatdichter zurechtgeschrieben, mit Plattdeutsch in der Überschrift, und in die bürgerliche Mitte geführt. Jäger und Sammler sind am Werk, „Buchstabenphilosophen“ ohne ästhetischen Sinn – wie Hölderlin sie nannte.    

Obwohl Du aus Deinem spießbürgerlichen und traditionsverhafteten Geburtsort flohst, um Dich von der „Zwangsjacke“ des kleinstädtischen Milieus zu lösen, und Dir der Makel des „Nestbeschmutzers“ auch heute noch anlastet, was ich in diesem Kontext jedoch als sehr ehrenwert empfinde, wirst Du dennoch heute als  „großer Sohn der Stadt“ gefeiert: Der Sünder wird hofiert.

Gruß Carius


PROJEKTE ZU R. D. BRINKMANN

Publikation et+k 2008 
Brinkmann. Schnitte im Atemschutz


Ausstellung Vechta 2008
Der unheimliche Brinkmann / Zeichen für einen Grenzgänger

Ausstellung Berlin 2014
R.D. Brinkmann / Unheimlich gegenwärtig


Ein Lyrikabend mit BELLA-triste Hildesheim und eine Ausstellung von Karl-Eckhard Carius im Rahmen der Reihe "Poesie aus den Ländern" in Zusammenarbeit mit der Literaturwerkstatt Berlin
Vertretung des Landes Niedersachsen beim Bund
In den Ministergärten 10, 10117 Berlin


In Rolf Dieter Brinkmanns Geburtsstadt Vechta will der Künstler Karl-Eckhard Carius dem Dichter eine Skulptur widmen und ihm ein Zeichen setzen. Um den Diskurs zu Brinkmann zu fördern, ist eine von ihm herausgegebene Publikation erschienen: »BRINKMANN - SCHNITTE IM ATEMSCHUTZ« (edition text+kritik, München). Darin setzen sich bedeutende Autoren wie Bazon Brock, Peter Handke, Elfriede Jelinek, Marcel Reich-Ranicki, Dieter Wellershoff, Klaus Theweleit und andere mit Brinkmann auseinander, als Plädoyer für den unbequemen Dichter. Im Rahmen seines Projekts konzipierte Carius die Publikation in Verbindung mit einer Ausstellung  »DER UNHEIMLICHE BRINKMANN«, die erstmalig in Vechta gezeigt wurde. Die Ausstellung ist für weitere Städte in Planung. Zudem veranstaltete er ein Schulforum unter dem Titel: »...BIN MEINE EIGENE SCHULE«.

Zur Intention des Brinkmann-Projekts

 Portal zur Rolf-Dieter-Brinkmann-Studie von Roberto Di Bella 

 

BRINKMANN
SCHNITTE IM ATEMSCHUTZ

KARL-ECKHARD CARIUS (HG.)

Mit Beiträgen von:
HEINZ LUDWIG ARNOLD
BAZON BROCK
KARL-ECKHARD CARIUS
BRIGITTE FRIEDRICH
PETER HANDKE
LUDWIG HAUGK
ELFRIEDE JELINEK
MARTIN KAGEL / GLENN WALLIS
MICHAEL KRÜGER
MARCEL REICH-RANICKI
JAN VOLKER RÖHNERT
RALF-RAINER RYGULLA
TERESA SALEMA
JÖRG SCHRÖDER
OLAF SELG
ECKHARD SCHUMACHER
VIRIATO SOROMENHO-MARQUES
KLAUS THEWELEIT
MICHAEL TÖTEBERG
RICHARD WAGNER
MELANIE WEIDEMÜLLER
DIETER WELLERSHOFF
MARC WELLMANN

edition text+kritik,
München 2008

ISBN: 978-3-88377-938-6
34 Euro